Notizen
K i l l e r k i n d e r k l i m a. Jedes Lebewesen ist eines zu viel: Darauf läuft die radikale Kritik der Klimaerhitzung hinaus. Wenn vor dem Verzehr von Tieren und ihren Produkten gewarnt wird, weil die Emissionen der Tiere schädlich seien, wird den Tieren mit dem Recht auf Emissionen das Recht auf Leben abgesprochen. Mancher mag dabei denken, dass diese Tiere ohnehin nur um des Menschen und seines Vernichtungswillens am Leben seien. Doch auch vor den Menschen selbst, denen die von ihnen verzehrten und genutzten Tiere über deren Emissionen zugerechnet werden, macht die Kritik keinen Halt. Denn kein Mensch kann als Essender, Wohnender, Reisender, überhaupt Konsumierender günstig fürs Klima sein. Die Kritik aufs Fliegen oder den Fleischkonsum zu reduzieren, ist dabei eine halbgare Variante, die kaum eine Diskussion wert ist. An der konsequenteren Forderung, keine Kinder in die Welt setzen, lässt sich das Falsche dieser Kritik besser sehen. Denn Mitglieder einer Familie belasten die Umwelt weniger als kinderlose Paare oder gar Alleinlebende. Erstens: In der Familie wird weniger Wohnraum pro Person zur Verfügung stehen als im kinderlosen Haushalt. Selbst der Wachstumskritiker Niko Paech gab kürzlich an, 40 Quadratmeter Wohnfläche zu haben. Welches Familienmitglied kann das von sich sagen? Zweitens: Gegenstände werden in Familien intensiver genutzt als von Alleinlebenden. Drittens: In Familien ist das verfügbare Einkommen pro Person niedriger, was sich auch daran zeigt, dass Familien besonders von Armut betroffen sind. Wer Kinder hat, nutzt also als Einzelperson dem Klima. Die Mängel der Kinderkritik zeigen sich auch in einer Studie, die den Eltern alle Emissionen zurechnet, die ihr(e) Kind(er) und alle nachfolgenden Kinder verursachen. Folgt man dieser Annahme, sind die Kinder, Enkelkinder etc. völlig frei von Emissionen. Womit aber lässt es sich rechtfertigen, dass ein Mensch für die Emissionen anderer Menschen verantwortlich sein soll, ein nachkommender aber nicht einmal für seine eigenen? Am Ende kommt es hierbei wohl nicht auf Logik an, sondern nur auf das diffuse Unbehagen an der Menge an Menschen an sich. Wer dieser Linie folgt, untergräbt aber die Grundlage aller Humanität: dass alle Menschen gleich sind und jeder Mensch das gleiche Recht auf Leben und Emissionen hat, wenn auch nicht auf jede beliebige Menge Emissionen. Praktisch fragt sich schließlich: Wie will jemand noch einen Menschen mit Argumenten erreichen, dem er das Lebensrecht abgesprochen hat? (04.02.2020)
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K r e d i t k r i t i k. Der Zins wird gelegentlich als Treiber des Wachstums gesehen. Die Notwendigkeit, mehr zurückzahlen zu müssen als man sich ursprünglich geliehen hat, gilt manchen als der Beweis dafür, dass der Zins alleine zum Wachstum führe. Selbst ein Wachstumskritiker wie Niko Paech, der sonst zurecht nicht müde wird, auf die Bedeutung des Massenkonsums für das Wachstum zu verweisen, prangert – in Befreiung vom Überfluss – den Zins an. Diese Theorie ist aus Sicht des einzelnen Unternehmens unplausibel: Dessen Sorge ist in der Regel nicht, den Zins zurückzahlen zu können, sondern wie es durch den Absatz die gesamten Kosten erlösen kann. Dabei darf es vor allem im technologischen Wettbewerb nicht ins Hintertreffen geraten, weil dann der gesamte Absatz auf einen Schlag gefährdet ist. Gegenüber der Abwendung dieser Gefahr ist der Zins meist nur ein nebensächlicher Kostenfaktor, wie die Eigentumsökonomik lehrt. Und soweit der Zins eine Wirkung hat, werden seinetwegen Unternehmen in der Gesamtheit eher schrumpfen als wachsen. Der Zins entzieht den Unternehmen Mittel, die an die Kredit- und Kapitalgeber fließen. Außerdem reizt ein hoher Zins Unternehmen dazu an, Mittel in Finanzinvestitionen zu stecken. Ein an Realinvestitionen und Wachstum interessierter Ökonom wie Keynes kritisierte deshalb den Zins und wünschte „a much lower rate of interest than has ruled hitherto“ (General Theory 24 II). Denn der Zins sei „not self-adjusting at a level best suited to the social advantage but constantly tends to rise to high“ (General Theory 23 V). Der Zins ist kein Treiber des Wachstums, sondern ein Bremser. Deshalb senken alle Zentralbanken in einer Rezession den Zins, um die Kreditaufnahme und damit das Wachstum zu stärken. Ob oder wie weit das funktioniert, sei hier dahingestellt. Jedenfalls wurde noch nie in der Geschichte der Zins erhöht, um das Wachstum anzutreiben. Was mit Wachstum zusammenhängt, ist der Kredit selbst. Dieser führt in der Tat zu einer Steigerung der wirtschaftlichen Aktivität, und zwar unabhängig davon, ob das Geld durch Banken geschöpft oder – wie bei Vollgeld oder am Kapitalmarkt – nur weitergereicht wird. Zinslose Kredite, wie sie die gescheiterte Bank für Gemeinwohl in Österreich anstrebte, würden zu mehr Wachstum führen, nicht zu weniger. (21.09.2019)
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V e r t e i l u n g s p r o b l e m. Die Gleichberechtigung leitet sich ideell von der Gleichheit der Menschen ab und will diese real erreichen. Was bedeutet das? In einer Paar-Beziehung und besonders bei der Erziehung eines Kindes ist es meist die gleichmäßige Erledigung von Arbeit, die als Gleichberechtigung verstanden wird: Keine Seite soll der anderen etwas voraushaben. Aber diese Regel löst kaum ein praktisches Problem. Denn was heißt aufteilen? Die einfachste und gerechteste Lösung scheint es, jede Arbeit genau zur Hälfte aufzuteilen. Dazu muss man akzeptieren, dass kaum eine Arbeitsteilung entlang ganzer Tätigkeiten mehr möglich ist. Verspürt jemand noch immer eine Neigung zu einer bestimmten Arbeit, ist ein Ausleben dieser Vorliebe so schwer, weil jede Praxis die Erinnerung ans vergangene Unrecht wachruft. Die Gleichverteilung erhöht jedenfalls gegenüber der früheren Teilung den Arbeitsaufwand, da beide Partner alle Tätigkeiten erlernen müssen und die konkrete Verteilung abgestimmt werden muss. Wenn nun in der Praxis nicht alle Tätigkeiten gleich geteilt werden können – und Schwangerschaft und Geburt werden immer dazu zählen –, dann ergeben sich die Probleme der Bewertung des Werts der Arbeit, mit denen auch die Wirtschaftswissenschaft hadert. Soll man mit Marx jede Arbeit nur nach der Arbeitszeit messen? Oder gibt es Arbeiten, die anspruchsvoller oder widerlicher sind, und deshalb höher bewertet werden müssen: Ist die Reinigung der Toilette mehr wert als die des Kindes? Gibt es einen Bonus, wenn das Kind schreit? Und wie wird die Frau für Schwangerschaft und Geburt entschädigt? Gibt es umgekehrt für die Entwicklung des Kindes bedeutsame Arbeiten, wie eine anspruchsvolle Nachhilfe, die als höherwertig gelten? Oder: Ist überhaupt jede Zeit mit dem Kind anrechenbar? Kann Spielen mit dem eigenen Kind Arbeit sein? Bei der Suche nach Antworten auf all diese Fragen kann jede Beziehung, die zum Partner wie die zum Kind, selbst zur Arbeit werden, ja muss es, um die Gleichverteilung zu berechnen. Doch selbst wenn man die Definition der Arbeitswerte vollständig leistet und dann alles gleich aufteilt: Dann stellt sich für die Gleichberechtigung noch immer ein anderes Problem: Konflikte entspringen nicht nur der Aufteilung der nötigen Arbeit, sondern auch ihrer Bestimmung. Zählt zum Notwendigen nur das Unerlässliche des allzutäglichen Lebens? Was ist unerlässlich? Muss das Kind gereinigt werden – oder: wie oft? Muss man mit dem Kind spielen oder kann es das auch alleine? Welche Wohnung, welche Spielzeuge müssen angeschafft werden? Hier ist es viel schwerer als bei der Regel der Gleichverteilung, eine Regel darüber aufzustellen, was gerecht ist. Die Basis ist viel unbestimmter als der Teiler, der doch immerhin in der Nähe von zwei liegen wird. Bei der Entscheidung lässt sich kaum eine numerische Regel aufstellen, meist wird eine Seite ihre Position räumen müssen. Diese Schwierigkeiten mit der Gleichberechtigung gehen auf ihre Begründung zurück: Die Forderung nach Gleichheit basiert auf der nach Selbstbestimmung, beschneidet jedoch dieselbe. So leben alle, die Gleichberechtigung anstreben, unweigerlich in einem Spannungsfeld zwischen zwei Freiheiten. (25.10.2017)
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E r f o l g s g e s c h i c h t e. So wenig manche dem Kapitalismus seine Schattenseiten zurechnen, so sehr alles Gute, das in einem nur irgendwie kapitalistisch-marktwirtschaftlichen System hervorgebracht wird. Gern wird aller ökonomischer und sozialer Erfolg in einer sozialen Marktwirtschaft auf den Markt zurückgeführt, nicht auf seine Einschränkung. Dass dieser wahre Erfolg auch auf dieser Einschränkung: auf Gesetzen, Steuern, öffentlichen Diensten, Unternehmen und Subventionen beruht, wird ausgeblendet. Selbst was – wie die Reduzierung der Arbeitszeit oder der Arbeitsschutz – gegen erbitterten Widerstand des Kapitals errungen wurde, macht sich dieses später als Erfolg zueigen; verbleibende Missstände werden dem Staat zugeschoben. Die Anhänger und Anhängerinnen der Marktwirtschaft glauben nicht selten selbst so stark an diese Verklärung, dass sie ehrlich empört sind, wenn in einer Marktwirtschaft das Marktprinzip eingeschränkt wird. Das seien protektionistische Sünden – doch da sie jeder begeht, müssen sie lässlich sein. Dann bleibt nur die Klage, dass keiner unbefleckt ist, aber das lässt manche nur umso entschlossener an die Reinheit glauben. Das Scheitern des Marktes wird denn auch niemals diesem selbst angelastet: der Markt habe nicht versagt, sondern er habe „Voraussetzungen“. Auch geben jene Marktler nur ungern zu, dass es den Staat braucht, sondern lieber einen „Rahmen“. Doch es wird auch so das Eingeständnis offenbar, dass der Markt für sich nicht stabil ist und alleine nicht existieren kann. Wegen dieser inhärenten Grenzen des Marktprinzips braucht es andere, gegenläufige Prinzipien wie Vergesellschaftung, Solidarität, Planung oder Kontrolle. Sobald solche Prinzipien mitwirken, kann man die Erfolge des gesamten Systems nicht mehr dem Markt alleine zusprechen. (13.1.2017)
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S c h n i t t f o l g e. Die Faszination für das Kino entsteht mehr durch die bloße Geschwindigkeit des Dargestellten als durch das Dargestellte selbst. Gewiss lockt Schönes, Kluges, Kurioses und Erschreckendes mehr Leute ins Kino als ihr Gegenteil, und umso mehr, desto ereignisloser, hässlicher und langweiliger das eigene Leben ist. Doch selbst das Schönste will niemand sehen, wie es wirklich ist, sondern heller, intensiver und schneller als das Leben es je verfügbar hat. Beim Aufstieg und Fall eines ganzen Reiches in zwei Stunden kann kein wirkliches Leben mithalten. Selbst das Entstehen und Vergehen einer Ehe kann für zwei Stunden spannenden Film reichen, und würde er von der eigenen handeln. Die Steigerung dieser Beschleunigung wird im Trailer erreicht. Aus zwei verdichteten Stunden werden zwei hochverdichtete Minuten, aus fünf Schnitten pro Minute zwanzig. Schlimm aber wird es, wenn man den Kinosaal verlässt: mehr als das wieder leuchtende Licht in den Augen schmerzt die wieder dauernde Zeit in der Seele. (25.11.2016)
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S p r a c h f a l t e n. So sehr ein Dichter eine eigene Sprache braucht, so wenig darf er den Boden der allgemein verständlichen Sprache verlassen. Nur in der richtigen Distanz zum Bekannten entfaltet sich große Kunst. Die Distanz ist bei jedem Dichter eine besondere: ein unerhörter Gebrauch von Adjektiven; ein entrückender Satzbau; unerdachte Bilder. Die spezifische Distanz trägt die Gefahr in sich, dass auch der beste Dichter zu gern mit seinen Pfunden wuchert. Rilke setzte sich so meisterhaft über die Form hinweg, dass er sie vergessen machte. Damit vergab er auch ihre Verdienste, denn wenn eine Endsilbe gar keine Betonung mehr erfährt, verliert das Gedicht an Wirkung. Es ist keine Makel der Form, dass sie Reime und Strophen vorgibt, sondern ihr Vorzug. Brecht brachte umgekehrt den freien lakonischen Ausdruck zur Blüte, der gerade in seiner Nähe zur Alltagssprache brillierte. Doch schließlich vergaß er, dass Kunst ohne Form nicht bestehen kann. Nicht jeder Gedanke ist ein Gedicht. Benn erzeugte einen Rausch von Bildern, der in seiner Häufigkeit erwartbar und unverbindlich wurde. Celans Zauber verrätselt. Den Dichtern ergeht es ähnlich wie den schönen Gesichtern: gerade die Züge, die in der Jugend außergewöhnliche Schönheit verleihen, werden in der Vertiefung des Alters zum Mangel. Das Grübchen, das ein Lachen unwiderstehlich machte, wird zur auffälligsten Falte: ebenso die Verse. (25.11.2016) 
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G  e w i n n w a r n u n g. Der Gewinn ist Gott und Teufel der  Marktwirtschaft in einem; er entscheidet über ihren Wert und Unwert. Wo  Gewinn gemacht wird, ist ein Nutzen vorhanden und wird ein Bedürfnis  befriedigt, denn die Kaufenden sind bereit, für ein Produkt mehr als die  Kosten der Produktion zu bezahlen. Zudem werden neue Anbieter  versuchen, auf die Bühne des Marktes zu treten. Fehlender Gewinn  hingegen kann auf fehlenden Nutzen hindeuten. Die  gewinngetriebene Leistung der Unternehmen bei der Befriedigung von  Bedürfnissen muss anerkennen, wer die Marktwirtschaft angemessen  kritisieren will. Doch umgekehrt muss gesehen werden, dass jemandem das Geld fehlen kann,  seinen Nutzen auszudrücken, vor allem aber sein Bedürfnis zu stillen.  Die Signalwirkung des Gewinns darf auch niemals darüber hinwegtäuschen,  dass schon aus marktimmanenter Sicht jeder Gewinn ein Unding ist.  Denn wenn der Markt wirklich so perfekt wäre wie in Lehrbüchern  herbeigesehnt, gäbe es keinen Gewinn – er wäre auf Null  hinabkonkurriert. Gibt es ihn dennoch, zahlen die Kaufenden zu viel. Die  Existenz von Gewinn, gar von hohem, bedeutet immer ein Versagen des  Marktes. Zur Verwirrung trägt jedoch bei, dass eine klare Unterscheidung  zwischen dem für Investitionen notwendigen Gewinn und der tatsächlichen  Mehrwertaneigung durch die Abschreibungsregeln erschwert ist. Daher der  oft trübe öffentliche Streit, wenn ein Unternehmen hohe Gewinne  ausweist und sie als notwendig für Investitionen verteidigt. Ließe sich  dieses Notwendige klarer fassen und abtrennen, könnte man, was den Rest  angeht, ohne Bedenken rufen: Haltet den Gewinn! (29.06.2014)
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D  o p p e l a g e n t. Der Unternehmer ist Freund und Feind des  Wettbewerbs zugleich; er ist loyal zum Wettbewerb nur, um ihn später  verraten zu können. Besser als im Wettbewerb zu gewinnen ist allemal,  keine Wettbewerber zu haben: „To widen the market and to narrow the  competition, is always the interest of the dealers.“ (Adam Smith, The  Wealth of Nations, Book I, Chapter XI, Part III, Conclusion). Wenn kein Unternehmer oder keine  Unternehmerin alleine den Wettbewerb ausschalten kann, versuchen sie es  gemeinsam im Kartell, doch auch da werden sie jede günstige Gelegenheit  zum Verrat nützen. Schon aus dieser allseitigen Illoyalität der  Wettbewerber folgt, dass der Wettbewerb für sich alleine ein zum  Scheitern verurteiltes Modell ist. (14.06.2014)
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S e x m o n s t e r. Das Verlangen speist sich aus zwei antagonistischen Quellen: Attraktion lässt uns nach allen Körpern streben, Selektion beschränkt unser Verlangen auf bestimmte Körper.  Beide Quellen für sich und gemeinsam begründen Glück und Schrecken der  Sexualität. Die Attraktion lässt das allen Körpern gemeinsame Schöne  begehren und verweigert keinem Körper die Anerkennung. Dies ist  tröstlich: für alle, die fürchten nie begehrt zu werden, und für alle,  die es ungerecht finden, wenn Einzelne einen Vorzug genießen – doch  können die Begehrenden und Begehrten an ihrer Willkür und  Bindungslosigkeit verzweifeln. Die Selektion lässt das besondere Schöne  wählen und zeichnet Wenige oder gar nur einen einzigen Menschen vor  allen anderen aus. Dies kann ehrlich und beglückend für die Erwählenden  und Erwählten sein – doch lässt es viele Einsame zurück und manche  Erwählende an der Missachtung der unerwählten Hässlichen verzweifeln. Im  Spannungsfeld zwischen Attraktion und Selektion bewegt uns das  Verlangen. Beides Glück steht uns offen, beide Schrecken begleiten uns.  Und manchmal dünkt es: Monster bist du, wenn du alle haben willst,  Monster wenn du die Eine bevorzugst; Monster, solange Du begehrst.  (27.04.2014)
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S  o z i a l ö k o l o g i e. So ausgenutzt wie die Erde schon ist, darf  sich kein Produktionssystem nur mehr auf das Soziale berufen. Die  sozialen Spielräume jedes Systems sind zudem weniger eindeutig als die  Endlichkeit der Ressourcen und der Klimawandel. Daraus lässt sich  ableiten, dass Ökologie höchste politische Priorität hat. Es wäre  dennoch das Beste, die soziale und die ökologische Krise auf einen  Schlag, mit einem Mittel lösen zu können. Das wäre möglich, wenn beide  dieselbe Ursache haben. Der Kapitalismus kommt als gemeinsame Ursache in  Frage – sofern aber damit nur die von ihm voran getriebene  Industrialisierung gemeint ist, bleibt die Lage verworren. Die Industrie  verschlingt Ressourcen und schädigt das Klima, aber sie kann eine  Lösung der sozialen Konflikte erleichtern und ist deshalb auch im  Sozialismus gut gelitten. Also muss der Sozialismus genauso eine Balance  zwischen Sozialem und Ökologie finden wie der Kapitalismus. Wenn sich  ökologische Politik aus diesem Grund agnostisch gegenüber dem  Kapitalismus versteht, könnte sie dennoch der Umwelt mehr schaden als  eine antikapitalistische, wenn auch umweltvergessene Politik. Eine  Entfesselung der Märkte kann mehr Ressourcenverbrauch freisetzen, als  sich später mit ökologischer Politik wieder einfangen lässt. Wer eine  ökologische Mobilität mit der Bahn will, darf die Bahn nicht durch  Privatisierung und Ausschreibungswettbewerb zerschlagen; wer eine  Energiewende oder gar eine Reduktion des Energieverbrauchs will, darf  sich nicht auf private Anbieter verlassen; wer Gewässerschutz will, darf  die Gewässer nicht den Konzernen überlassen.  Außerdem sorgt der Markt dafür, dass erwirtschafteter Wohlstand  ungleicher verteilt ist: Für ein gegebenes soziales Ziel wie einen  würdigen Lebensstandard für alle wird dadurch mehr Produktion benötigt.  Eine soziale Politik, die den Kapitalismus in die Schranken weist, gerät  so zu einer potentiell ökologischen Politik. Vielleicht weil von  vorneherein weniger produziert werden muss. Vielleicht weil bewusst  weniger, aber Besseres produziert wird. Vielleicht weil ungewollt  weniger produziert wird. Weniger muss es sein. (21.10.2013)
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S  t a a t s e i g e n t u m. Das Eigentumsrecht erheischt die Fiktion des  Freiheitsrechts schlechthin, obwohl es das staatlichste aller  Bürgerrechte ist. Es verbürgt in der Vorstellung des Liberalismus nicht  nur die Freiheit, sondern auch den Frieden. Das voll entwickelte  Eigentum lässt vergessen, dass der Weg zu ihm über Gewalt führt. Das  spiegelt sich schon in der rohen juristischen Gestalt des Eigentums, dem  Besitz: „Der Besitz einer Sache wird durch die Erlangung der  tatsächlichen Gewalt über die Sache erworben.“ (§854 Bürgerliches  Gesetzbuch). Damit aus Besitz Eigentum werden kann, braucht es eine  höhere Instanz als die der Eigentümer selbst. Erst der Staat mit seinen  Rechtstiteln schafft das Eigentum. Und erst die Staatsgewalt verleiht  ihm sein friedliches Erscheinungsbild, indem sie dem Eigentümer die  Gewaltausübung abnimmt. Von der Verfügungsgewalt bleibt im  kapitalistischen Alltag nur die Verfügung. Der Eigentümer gibt sich  nicht nur der Illusion hin, sein Eigentum wäre gewaltfrei, er wirft dem  Staat seine Gewalttätigkeit sogar noch vor. Das Schlimmste ist für ihn,  wenn der Staat in sein Eigentum eingreift – das dieser geschaffen hat!  Auch ein Blick in die Geschichte zeigt, wie sehr sich Eigentümer über  die gewaltsame Entstehung ihres Eigentums täuschen. Am Anfang neuen  Eigentums steht oft die Enteignung. „Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente  Veräußerung der Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigentums, die  usurpatorische und mit rücksichtlosem Terrorismus vollzogene  Verwandlung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigentum, es  waren ebenso viele idyllische Methoden der ursprünglichen  Akkumulation.“ (Marx, Das Kapital, 1. Bd., 1. Buch, 24. Kap.) Von den  Gewaltwurzeln ihres Eigentums wollen Eigentümer so wenig wissen wie von  seiner Staatsgewalttätigkeit. (01.09.2013)
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A  b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s. Bei der Arbeit ruht der  Kapitalismus auf zwei Grundpfeilern: dem freien Unternehmertum, das  allen als Ideal der Arbeit verheißen wird, und der abhängigen  Lohnarbeit, die für die große Mehrheit der Menschen Realität ist. So  fundamental sich diese beiden Formen von Arbeit unterschieden und so  sehr sie sich für die Menschen als Entweder-Oder darstellen, so eng sind  sie im Kapitalismus verbunden. Der Aufbau von kapitalistischen  Unternehmen ist nicht möglich ohne abhängige Lohnarbeit. Der Unternehmer  kann deshalb seine Freiheit nur verwirklichen, indem er sie anderen  nimmt. Je größer seine Freiheit und sein ökonomischer Erfolg sind, desto  mehr Unfreiheit von anderen ist nötig. Wenn Unternehmertum das höchste  individuelle Ziel des Kapitalismus ist, verstößt seine Umsetzung  permanent gegen dieses Ziel, indem die Masse davon ausgeschlossen  bleibt. Marx hat dies unter dem Blickwinkel des Eigentums in der ihm  eigenen Schärfe festgehalten: „Eigentum erscheint jetzt, auf Seite des  Kapitalisten, als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters, als Unmöglichkeit, sein eigenes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging.“  (Das Kapital, 1. Bd., 1. Buch, 22. Kap.). Und: „Die aus der  kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische  Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigene Arbeit gegründeten Privateigentums.“  (24. Kap.) Was mit der Enteignung begann und beginnt, spiegelt sich in  der Lohnarbeit: durch Abhängigkeit bedingte Freiheit und durch Freiheit  bedingte Abhängigkeit. (28.06.2013)
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G  e g e n w e r t. Derivate werden geschaffen, um die ökonomische  Bedeutung ihrer Basiswerte zu konterkarieren. Eigentlich sollen  Wertänderungen der Basiswerte auch eine Verhaltensänderung der  Wirtschaftsakteure bewirken, so zumindest unterstellen es die Lehrbücher  der Volkswirtschaftslehre: Steigende Zinsen sollen die  Wirtschaftstätigkeit drosseln, sinkende Rohstoffpreise ein Überangebot  anzeigen, Wechselkursänderungen die Leistung einer Volkswirtschaft  spiegeln. Doch genau gegen diese theoretisch geforderten und  gesamtwirtschaftlich gewollten Wirkungen will sich der Einzelne mit  Derivaten absichern. Für ihn soll eine Änderung von Zinsen, Preisen oder  Wechselkursen keine Bedeutung mehr haben. Wenn nur wenige Akteure  Derivate zur Absicherung nutzen, werden sich Änderungen extrem  asymmetrisch auswirken. Wenn aber viele sie nutzen, treten Derivat und  Basiswert in eine Konkurrenz zueinander. Sichern sich tatsächlich alle  Akteure gegen eine Zinssteigerung ab, würde selbige ins Leere laufen.  Zugleich verliert die Orientierung an den Basiswerten ihren Sinn, wenn  diese für die Akteure keine reale Bedeutung mehr haben. Der  Derivatemarkt und seine Preise bilden dann selbst die Basis des  Wirtschaftens, auf die sie sich anfangs nur bezogen haben. Eine  Parallelwelt an Absicherungsgeschäften wird dann die eigentliche Welt  ersetzen. Für diese Parallelwelt müssen die makroökonomischen Lehrbücher  erst noch geschrieben werden. (07.06.2013)
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U  n s c h u l d s w o l f. Der Kommunismus ist eine gute Idee, aber in  der Praxis funktioniert er nicht: diesen Gedanken gilt es auf den  Kapitalismus anzuwenden. Dem Kapitalismus gelingt es allzu gut, sich von  seinen real existierenden Formen zu distanzieren. Spricht man den  Sklavenhandel an, wird der Kapitalismus mit Verweis auf die Lohnarbeit  als Überwinder gedeutet.  Spricht man Imperialismus und Kolonialismus an, wird der Kapitalismus  nicht nur zum Friedensprofiteur, sondern gleich zum Friedensbringer  erklärt, denn die Kriege führt immer der Staat. Spricht man die  Unterstützung von Teilen des Kapitals für den Nationalsozialismus an,  wird besonders scharf auf die Antithese von totalitär-sozialistischen  und freiheitlich-kapitalistischen Staaten gepocht. Spricht man  Ungleichheit an, leben selbst die Ärmsten noch in der besten aller  Welten. Spricht man Missstände und Schäden durch die kapitalistische  Produktion durch die Jahrhunderte an, ist es vorher immer noch  schlechter gewesen. Der Kapitalismus ist nie für einen Missstand  verantwortlich, er hat ihn nur noch nicht beseitigt. Dahinter steckt die  Reinheit der Idee: weil Markt und Kapital so unschlagbar effizient und  gewaltlos sind, muss jeder Missstand eine andere Ursache haben. Oder so  marginal sein, dass er als Einwand nicht zählt. Für diese Argumentation  eignet sich der Kapitalismus im Gegensatz zum Kommunismus besonders gut.  Dem Kommunismus haftet an, er sei tatsächlich und immer totalitär und  ihm damit alles zurechenbar, was während seiner Herrschaft sich  ereignet. Der Kapitalismus dagegen macht sich klein und versteht sich  als bloßes Wirtschaftssystem, das mit dem ihn umgebenden Staat nichts zu  tun habe, ihm sogar entgegengesetzt sei. Doch der Kapitalismus braucht  den Staat, und sei es nur als Sündenbock für die niemals endenden  Missstände. Reicht diese Entschuldigung nicht aus, greift mit dem  Individualismus ein anderes Sichkleinmachen: wem es schlecht geht, der  ist selber schuld, weil er die Möglichkeiten des Marktes nicht genutzt  hat. Mit dem Rückgriff auf Staat und Ungeratene lässt sich die  Unbeflecktheit von Konkurrenzprinzip und Kapitalakkumulation noch  allezeit beweisen. Wer sich an der Realität orientiert, wird den  Kapitalismus nicht so leicht aus der Verantwortung für das entlassen,  was mit ihm einhergeht. (09.05.2013)
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T  e i l f r e i h e i t. Wer ausgiebig von der Freiheit spricht, die es  gegen Staat und Moralisten zu verteidigen gelte, hat doch bestimmte  Formen der Freiheit im Sinn. Es kann die Freiheit sein, seine Meinung  kund zu tun; die Freiheit, sein im Markt verdientes Geld für sich zu  behalten; die Freiheit, zu rauchen, wo man will; die Freiheit, Auto zu  fahren, natürlich so schnell es der Motor zulässt; die Freiheit, Müll zu  produzieren und in der Welt zu verbreiten; die Freiheit, anzüglich zu  sein und seinen Blicken keine Grenzen aufzuerlegen. Obwohl Freiheit oft  nur eine ihrer Formen meint, wähnen sich ihre Verteidiger stets  universal. Zugleich neigt die Auswahl zur Bequemlichkeit. Dass auch die  Einschränkung seiner selbst oder die Anerkennung allgemeiner Regeln  Freiheit sein kann, muss diesem Vulgärliberalismus fremd bleiben. Noch  mehr, dass Freiheit die Würde des Menschen nicht nur zur Voraussetzung,  sondern auch zum Ziel haben sollte. Wer dagegen Freiheit vor allem als  das Verfolgen eigener Interessen oder das Ausleben persönlicher  Vorlieben versteht, will nicht sehen, dass mit Zigaretten und Autos nur  das begehrt wird, was eine milliardenschwere Werbeindustrie tagtäglich  als Freiheit verkaufen muss. Will nicht sehen, dass der Zwang zur  Müllproduktion durch den üblichen Konsum uns mehr Einschränkungen  auferlegt als jede Mülltrennung. Und schon gar nicht sehen wollen diese  Freiheitlichen, dass der staatliche Zwangsapparat die Verletzung des  Privateigentums härter ahndet als jede Steuerhinterziehung. Wer hinter  Ökosteuer und Wärmedämmung die Diktatur heraufziehen sieht, verwendet  seine Meinungsfreiheit kaum für Gefangene, welche tatsächlich Grund  haben, den Staat für einen unfreien zu halten. (28.04.2013)
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W i n – L o s e.  Die Hermetik des Marktliberalismus offenbart sich an der These vom  beidseitigen Gewinn. Oft wird der Markt damit gerechtfertigt, beide an  einem Geschäft Beteiligten würden sich immer besser stellen, sprich:  gewinnen, denn sonst würde das Geschäft nicht getätigt. Vorausgesetzt  wird dabei, dass der Einzelne die Wahl habe, auf das Geschäft zu  verzichten oder ein anderes, für ihn besseres einzugehen; dadurch werde  die Gegenseite zu so vielen Zugeständnissen gezwungen, dass sich das  Geschäft tatsächlich lohnt. Doch gerade in der Marktwirtschaft ist der  Einzelne gezwungen, die Leistung am Markt zu erwerben, und das heißt bei  bestimmten Gütern: koste es, was es wolle. Der Mensch braucht nun  einmal Essen, also muss er dafür einen Vertrag schließen. Dass er am  Ende mit jedem noch so schlechten Preis bessergestellt ist, weil er  nicht verhungern muss, belegt nur formal die Win-Win-These –  in  Wahrheit enthüllt es ihre grausame Abstraktheit. Die Besserstellung als  Kriterium ist so formalistisch, dass noch jede offene Zwangssituation  darunter subsumiert werden kann. Wenn der Räuber „Geld oder Leben“  fordert, tut er es im Wissen darum, dass sich ein vernünftiger Mensch  damit besser stellt, nur sein Geld zu verlieren. Mit anderen Verträgen  verhält es sich nicht anders. Zu einem der wichtigsten Verträge, den die  Marktwirtschaft kennt und braucht: zum Arbeitsvertrag merkte Max Weber  einmal an: „Das formale Recht des Arbeiters, einen Arbeitsvertrag jeden  beliebigen Inhalts zu schließen, bedeutet für den Arbeitssuchenden  praktisch nicht die mindeste Freiheit in der eigenen Gestaltung der  Arbeitsbedingungen und garantiert an sich auch keinerlei Einfluss  darauf“ (Freiheit und Zwang in der Rechtsgemeinschaft). Und Schumpeter  schrieb schon vor ungefähr 75 Jahren: "In seiner Vollkraft bedeutete  [das freie Vertragsrecht] den individuellen Vetragsabschluss nach einer  individuellen Wahl zwischen einer unbegrenzten Zahl von Möglickeiten.  Der stereotype, unindividuelle, unpersönliche und bürokratisierte  Vertrag von heute (...) zeigt keine der alten Merkmale mehr, deren  wichtigste unmöglich geworden sind bei Riesenkonzernen, die mit anderen  Riesenkonzerenen oder mit unpersönlichen Massen von Arbeitern oder  Konsumenten zu verkehren haben." (Zum Problem der Vertragsfreiheit).   Solches Realitätsbewusstsein braucht es, um Gewinner und Verlierer des  Marktsystems zu erkennen, statt sich der formalen Illusion hinzugeben, dass es im Markt nur Gewinner gäbe. (30.03.2013, ergänzt  21.10.2013)
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K  a t h e d e r k a p i t a l i s t. Professoren, die eifrig eintreten  für den Wettbewerb als das effizienteste oder gar gerechteste  Ordnungsprinzip für eine Gesellschaft, übersehen allzu leicht den  Widerspruch zu ihrer eigenen, praktisch wettbewerbsfreien und auf  Lebenszeit gesicherten Existenz als Staatsbeamte. Hans-Werner Sinn, dem  beim Thema Arbeit sonst vor allem der Markt einfällt, nimmt dennoch  gerne für seine eigene Arbeit und sein Institut staatliche Gelder und  Subventionen. Warum tritt jemand so sehr für den Wettbewerb ein, der  selbst unter Herausnahme aus dem Wettbewerb seine Leistungen erbringt  und finanziert? Sinn sagte dazu einmal: „Forschung ist ein öffentliches  Gut. Es besteht deshalb ein Konsens in Europa, dass der Staat die  Forschung fördert.“ Dem ist ja zuzustimmen. Warum aber lassen Sinn und  seine Gesinnungsgenossen eine Reflektion ihrer eigenen Arbeit und  Lebensweise nicht wirklich zu? Sie rationalisieren offensichtlich nicht,  dass ihre Leistung und Unabhängigkeit auch auf staatlicher Absicherung  beruht. Oder anders gefragt: Warum wird jemand, der in seiner Theorie so  viel auf den Markt hält, nicht gleich Unternehmer? Die Antwort darauf  darf nicht sein, ihm die Beamtenstelle zu streichen. Sein Leben ist  humaner als seine Lehre, denn es beweist, dass neben dem Eigennutzen  zumindest noch das Erkenntnisinteresse als Ziel des Menschen exisitiert  und ausgelebt werden will. Ein solcher Professor dürfte nur anderen  nicht so umstandslos als Höchstes predigen, was er selbst nicht lebt und  leben muss. (10.03.2013)
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G  l e i c h v e r p f l i c h t u n g. Der Begriff Gleichberechtigung  kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Verwirklichung immer  auch mit  neuen oder neu verteilten Pflichten einhergeht. In der  gleichberechtigten Beziehung sind beide Partner zunächst verpflichtet,  alle Pflichten gleichermaßen wahrzunehmen. Jede a priori festgelegte  Pflichtenverteilung ist unzulässig und alle Abweichungen vom  Gleichgewicht müssen verhandelt und gemeinsam entschieden werden. Die  Abweichung wird damit aber nicht aus der Welt geschafft, sondern sie  wird und muss sich im Alltag ständig ereignen. Sie wird dann immer zur  Gegenleistung verpflichten, damit das Gleichgewicht gewahrt bleibt, und  sei es nur in Form von Dank. Deshalb braucht es in der  gleichberechtigten Beziehung selbst da einen Ausgleich, wo Neigung eine  Seite zur Erledigung einer Pflicht treibt. Eine peinliche Berührtheit  wird schließlich eintreten, je näher das tatsächliche Ergebnis der  früheren, überwunden geglaubten Verteilung kommt. Jede solche Verteilung  steht im Verdacht, nur eine Fortsetzung des alten Unrechts zu sein.  (02.03.2013) 
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M a s s e n h e l d. Dass große Männer  Geschichte machen, wenn sie begnadet sind; dass jeder die Welt  verändern kann, wenn der Wille nur da ist; dass Tellerwäscher zu  Millionären werden, wenn Sie sich genug anstrengen – solcherlei  Fixierung auf die Leistung des Einzelnen kommt allen Ideologien zupass,  die den Einfluss der Gesellschaft herunterspielen wollen. Der Einzelne  wird groß gemacht, vor allem um zu kaschieren, dass er alleine kaum  Wirkung hat und niemals haben kann. Die beste Erfindung bedarf der  tausend- und millionenfachen Produktion und Verbreitung durch den  gesellschaftlichen Apparat, um wirklich etwas im Leben der Massen zu  verändern. Napoleon hatte, wie Brecht bemerkte, wohl auch einen Koch  dabei, als er Russland eroberte. Noch immer dient der Kult des Einzelnen  dazu, die Massen, die an ihn glauben, der Macht und dem Reichtum  Einzelner gefügig zu machen. Es können noch so viele Tellerwäscherinnen  an ihre Millionärszukunft glauben, am Ende wird es sehr viele  Tellerwäscherinnen und sehr wenige Millionärinnen geben. Erst wenn sich  die Einzelnen damit bescheiden, die Begrenztheit ihrer eigenen Leistung  und die große Leistung ihrer Mitmenschen anzuerkennen, können sie  zurecht stolz sein auf das, was sie sind: Menschen, die alle mehr oder  weniger gleich viel dazu beitragen, dass die Erde ein bewohnbarer Ort  wird und bleibt. Solange der Tellerwäscher nicht sich und seine heute  gewaschenen Teller wertschätzen kann, statt sich an die Zukunft  vermeintlicher Millionen zu klammern, wird es keine humane Gesellschaft  geben. Die Masse darf nicht an Helden glauben, denen sie nacheifert,  sondern muss sich selbst als den Helden begreifen, der sie ist. (17.02.2013)
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S  t a a t s v e r e i n. Carl Schmitt, der unselige Liberalenhasser, wies  dennoch mit Recht auf die negative Natur des Liberalismus hin: ohne  einen Staat, ohne eine Kirche, ohne eine Moral, gegen die er sich  richten kann, ist der Liberalismus politisch nicht überlebensfähig: er  kann keine vollständige Lehre der Politik sein. Das Defizit lässt sich  auch anders fassen: Der Liberalismus kann den Einzelnen bei Achtung  seiner eigenen Grundsätze nicht verbieten, sich zusammenzuschließen, um  ihre Interessen gemeinsam zu verfolgen. Selbst ein Liberaler, der mit  der Bereitstellung von Sicherheit den letzten Kern des Staates als  dessen Aufgabe leugnet, wird sich nicht dagegen stellen können, dass  Einzelne sich zu Bürgerwehren oder gated communities zusammenschließen, um für ein bestimmtes Gebiet ihre Sicherheit selbst zu gewährleisten. Was aber, wenn die Bürgerwehren oder gated communities  immer größer werden – bis schließlich eine veritable Armee und Polizei  von allen in einem größeren Gebiet als Sicherheitseinrichtung, sprich:  als Staat anerkannt werden? Ähnliche Ableitungen ließen sich für viele  staatliche Einrichtungen finden. Nun kann der Liberale einwenden, diese  Einrichtung müsse jederzeit das volle Einverständnis aller Einzelnen  erheischen, oder jedenfalls müsse es – mit Rousseau gedacht – einmal am  Anfang eine prinzipielle Einwilligung aller gegeben haben, bevor die  Mehrheitsentscheidung gilt. Doch ist das zumindest in Staaten gegeben,  die man freiwillig verlassen kann. Und viel Wahres ist an der Schuld  gegenüber dem Staat, die Sokrates aus dem Aufwachsen in diesem ableitete  und die ihn am Ende zum Schierlingsbecher greifen ließ. (17.02.2013)
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K  o n t e r r e v o l u t i o n. Das Scheitern des Antikapitalismus, wie  ihn die Linke von 1968 propagierte, lässt sich erst heute ganz ermessen.  Hätte die Bewegung Wirkung gehabt, müsste sich zumindest ein Innehalten  der kapitalistischen Kräfte seit damals feststellen lassen. Stattdessen  begann genau zu dieser Zeit die neoliberale Revolution in Wissenschaft  und Politik, in deren Zuge das im real existierenden Kapitalismus an  Gleichheit und Zähmung des Kapitals Erreichte ebendiesem Kapital und den  Vermögenden geopfert wurde. Es kam zur Entwicklung des  Finanzkapitalismus mit der Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen,  der Explosion der Finanzderivate,  dem Aufstieg der Investmentbanken,  Umverteilung und Privatisierungen auf breiter Ebene. All dies bedeutete  eine verschärfte kapitalistische Durchdringung von Wirtschaft und  Gesellschaft, wie sie 68 noch gar nicht vorhanden oder gar vorstellbar  war. Nichts hat der Marsch durch die Institutionen an dieser Entgrenzung  des Kapitals mit all ihren Krisen verhindern können. Wenn nun  Konservative und Rechte die Generation von 68 und ihre Ideen für einen  Missstand verantwortlich machen, ist das zumindest in ökonomischer  Hinsicht von grotesker Realitätsferne. Das Versagen dieser  vermeintlichen Revolution, die sich so leidenschaftlich mit der  Gesellschaft beschäftigte, ist nirgends so offenkundig wie dort, wo sie  am stärksten hätte wirken müssen: in der Lehre von der Wirtschaft.  Besonders diese blieb – leider – vom Antikapitalismus unberührt und den  Kapitalisten und Marktfanatikern überlassen. (21.12.2011)
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G e s c h ä f t s m o r a l. „Deutschland ist das Land der Wurstesser, weil Deutschland das Land der besten Wurstmacher  ist. Seine Fleisch- und Wurstwaren haben längst ihren Siegeszug durch  die Alte und die Neue Welt angetreten und deutsche Wurstmacher sind in  allen Erdteilen als Meister ihres Fachs angesehen und anerkannt. Dieser  gute Ruf verpflichtet. Jede Abweichung von der geraden Linie wirkt  zerstörend auf die Achtung, die der Wurstmacher genießt. Um die  Redlichkeit in der Wurstmacherei zu erhalten, ist die genaue Kenntnis  der Gesetze und Verordnungen nötig. Ohne Gesetze und Verordnungen ist  keine menschliche Gemeinschaft denkbar und damit auch keine Herstellung  und kein Handel mit Lebensmitteln möglich. Es gibt für den Wurstmacher  wie für jeden anderen Grenzen, die zu beachten und anzuerkennen sind.  Sie sind nicht immer durch den Gesetzgeber gezogen, sondern oft durch  das Gewerbe selber, den Käufer usw. Ich erinnere hier an Ausdrücke wie  Gewerbeüblichkeit, Ortsüblichkeit, Käufererwartung und dgl. Alle diese,  eine falsch verstandene Freiheit der Handlung einschränkenden,  geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze muß der Fleischer kennen. (…)  Der Kunde muss für sein gutes Geld ehrliche Ware erhalten.“ (Hermann Koch, Die Fabrikation feiner Fleisch- und Wurstwaren, 1959).
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I  n t e l l i g e n z b e s t i e. Eine Gesellschaft stellt man sich mit  dem Alltagsverstand doch als etwas Kompliziertes vor. Niemand kommt so  leicht auf die Idee, sie mit einem Element oder auch nur wenigen  erklären zu können. Erst wer ganze Bücher schreibt, um seine  intellektuellen Komplexe zu befriedigen, kann es nicht ertragen, das  Eine nicht zu erfassen, das die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Und  statt sich dann wenigstens auf ein Naheliegendes wie soziale  Fähigkeiten, Verständnis oder Wille zum Zusammenleben zu kaprizieren,  wird bei einem wie Sarrazin ein dem Sozialen gegenüber so Neutrales wenn  nicht gar Feindliches gewählt wie die Intelligenz, verbrämt höchstens  noch als Bildung. Daraus leitet sich Abscheu gegenüber den Dummen im  Allgemeinen – den Arbeitslosen – und den besonders Dummen im Speziellen –  den Muslimen – ab. Für solche Denker zerfällt die Gesellschaft, wenn  sie ihren Intelligenzwert nicht sorgsam pflege und hochzüchte, deshalb  seien zum Schutz des IQ alle Mittel erlaubt. Dass damit die beklagte  Spaltung der Gesellschaft verstärkt wird, kümmert nicht. Auch nicht,  dass die eugenischen und nationalistischen Zeiten, in denen solche  Haltungen bis zum letzten durchexerziert wurden, mit gesellschaftlichen  Katastrophen unsäglichen Ausmaßes zusammenfallen. Vielmehr werden gerade  solche und andere strenge oder barbarische Zeiten zu einem Paradies  verklärt, aus dem der Mensch durch den Sündenfall Zuwanderung in die  Hölle der Intelligenzentwertung hinabsteige. Um zu begreifen, wie jemand  zu solcher Verklärung fähig sein kann, lohnt sich die Frage, was einen  wie Sarrazin im Innersten antreibt. Sein Intelligenzwahn scheint eine  Reaktion auf seinen persönlichen Bildungsleidensweg, der von ihm selbst  mehr oder weniger offen ausgebreitet wird: der unausgesprochene Traum,  ein Bertrand Russell zu sein – und es dann nur zum Beamten und  Freizeitstatistiker zu bringen; das jugendliche Trauma, eine Vokabel  oder Ableitung nicht beherrscht zu haben – das nun mit umso mehr und  umso härteren Sekundärtugenden geheilt werden muss; der Anspruch, ein  Bildungsreformer zu sein – mit Vorschlägen, die wie ein halbverdautes  Kondensat aus Diskussionen mit der ihm angetrauten Lehrerin wirken; der  Apologet der Musterfamilie – der seinen eigenen arbeitslosen Sohn  wegschweigen muss. Sein Bekenntnis zu Bildung und Wissenschaft  konterkariert Sarrazin, wenn er sich ständig in seinen Argumenten  wiederholt oder mit Übertreibungen und Verallgemeinerungen von  Einzelbeispielen arbeitet. Sogar seine Zahlenliebe straft Sarrazin  Lügen, wenn er den Einfluss des IQ auf die Bildungschancen eines  Menschen mal mit „50-80“ Prozent, mal mit „80“ Prozent, mal mit  „mindestens 50“ Prozent angibt, dann aber selbst Studien nennt, die von  40-60 Prozent ausgehen, um schließlich einfach zu bemerken, es sei doch  für seine Zwecke „egal, ob die Erblichkeit der Intelligenz bei 40, 60  oder 80 Prozent´" liegt. Wenn es so egal ist, wie kann Sarrazin dann ein  ganzes Buch maßgeblich darüber schreiben, wie wichtig die vererbte  Intelligenz ist? Vollends blamiert er sich, wenn ausgerechnet er mit  seinem bornierten Intellektualismus und seinem mäßigen Schreibstil den  Untergang des Abendlandes am Untergang des Nachtlieds festmachen will.  Da bleibt nur zu hoffen, dass er auch balde ruht und seine Drohung nicht  wahr machen wird, noch ein Buch zu schreiben. (04.10.2011)
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K  a p e r l a u n e. Während das Wort „launig“ inzwischen zu den  aussterbenden zählen muss und nur der „launische“ Mensch im Alltag  überlebt hat, bleibt zumindest in der „Laune“ noch die Doppelsinnigkeit  erhalten. Die Grenze zwischen Frohsinn und Wechselhaftigkeit wird nun im  politischen Betrieb auf ein Neues von den Piraten ausgelotet. Schon  eine andere früher als erheiternd und unverbraucht geltende Partei  musste allerdings erleben, in den Sog und zweifelhaften Ruf  verantwortungsgeleiteter Positionswechselei zu geraten. Dass dies im  Fall der Piraten nicht anders enden wird, ist zumindest nicht  unwahrscheinlich, ja der inhaltliche Verfall könnte sogar noch schneller  eintreten als bei den Grünen. Anfällig für zukünftige Launen sind die  Piraten jedenfalls über das für Parteien normale Maß hinaus. Nicht nur  auf ihrem politischen Kerngebiet Transparenz könnten ihre Versprechungen  bald im politischen Betrieb zerrieben werden. Von vorneherein haben sie  weniger zu verlieren als die Grünen mit ihren Gründungsgroßthemen wie  Frieden, Menschenrechte, Atom und Umwelt. Das Netz als solches ist nicht  umstritten, die Freiheit darin bei weitem nicht so sehr wie einstmals  AKWs. Vor allem aber dürften sich, ähnlich wie lange Zeit bei den  Grünen, die liberal-anarchistischen Wurzeln gegen die  kollektivistisch-sozialen Blüten durchsetzen. Wer in seinen  anspruchsvollsten Momenten auch auf Tocqueville, Popper und sogar Hayek  zurückgreift, um seinen Einsatz gegen staatliche Netzkontrolle zu  legitimieren und sein Weltbild zu erklären, wird auf Dauer kaum an  Grundeinkommen, Mindestlöhnen und kostenlosem Nahverkehr festhalten.  Selbst das Bekenntnis zur direkten Demokratie wirkt da reichlich  gefährdet. Im schlimmsten Fall ist zu befürchten, dass durch den Erfolg  der Piraten die dringend nötigen Maßnahmen für mehr soziale  Gerechtigkeit, mehr Gemeingüter und mehr Umverteilung einen Schaden  erleiden, weil sie dem Einsatz für Freiheit im Allgemeinen und freie  Netze im Besonderen geopfert werden müssen. Zu hoffen bleibt natürlich,  dass die Piraten so stimmungsvoll und stimmungsresistent wie möglich ihr  widersprüchliches Programm vertreten werden. (24.09.2011)
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K  o l l a t e r a l s c h a d e n. Wer die andauernde Finanzkrise  verstehen will, muss sich unweigerlich mit dem Sinn und Unsinn von  Krediten beschäftigen. Keine Schule der Volkswirtschaftslehre scheint  dazu hilfreicher als die Eigentumsökonomik von Heinsohn und Steiger. Sie  ersetzt den Markt als Mutter aller ökonomischen Aktitivät durch den  Kredit, basierend auf Eigentum als Besicherung. Wenn nur viele oder  wenige ihr Eigentum haben, dieses als anständige Besicherung für Kredite  verwenden und für diese Kredite dann ökonomisch berechtigte Zinsen  verlangen, wird in der Welt der Eigentumsökonomik alles gut. So schaffen  Heinsohn Steiger eine Theorie, die – trotz aller daraus erwachsenden  immanenten Kritik – das Eigentum und den zinsgetriebenen Kapitalismus  noch viel eiserner verteideigen kann als die (Neo-)Klassik und der  Keynesianismus. Auch der Kern der Finanzkrise am US-Hypthekenmarkt kann  auf den ersten Blick mit unzureichender Besicherung gut erklärt werden.  Doch auf die Frage, warum es überhaupt oder zumindest so lange möglich  ist, falsche Kredite zu vergeben, bleiben Heinsohn und Steiger eine  Antwort schuldig. Denn sie haben nicht nur Markt durch Kredit, sondern  den perfekten Markt durch den perfekten Kredit ersetzt.  Sie geraten damit auch in dieselben Schwierigkeit wie die Theorie vom  perfekten Markt: Sie neigen dazu, ihre normativ-ökonomischen Einsichten  als Ist-Zustände zu nehmen, werden blind für das permanente Versagen des  Kreditwesens und spielen seine Nebeneffekte wie Akkumalation herunter.  Menschen und Banken folgen den Regeln von Heinsohn und Steiger eben viel  zu selten und vergeben oder nehmen gerne schlechte und betrügerische  Kredite. Deshalb gab es die US-Hypthekenkrise, und deshalb lässt sie  sich mit Heinsohn und Steiger weniger gut verstehen als eigentlich zu  erwarten wäre. Denn der schlechte Kredit findet keinen systematischen  Eingang in ihre Theorie. Natürlich ist ihnen bewusst, dass es den  perfekten oder auch nur guten Kredit oft nicht gibt, und sie können es  auch scharfzüngig anprangern. Aber sie vertrauen letztlich darauf, dass  Kredite im Wesentlichen doch so geschlossen werden, wie sie es sich  wünschen. Mit ihrer Theorie fallen Heinsohn und Steiger damit hinter das  zurück, worauf sich die Volkswirtschaftslehre heute zurecht immer mehr  konzentriert: sich an den Unzulänglichkeiten der Praxis gegenüber der  Theorie abzuarbeiten – sei es nun die vom perfekten Markt oder die vom  perfekten Kredit. (17.09.2011)
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V  e r f a l l s p r o d u k t. Benn, der Dichter des Verfalls, gedachte  einst der Zeit, da „sich alle einer Mitte neigten“. Doch trotz seiner  Wehmut und trotz seines gefährlichen Gefallens am „Wogen der Geschichte“  blieb Benn nicht dabei, das schon zu seiner Zeit verlorene Ich zu  beklagen, sondern schrieb Hymnen darauf. Mit Sarrazin aber tritt nun  einer auf, der zu wissen vorgibt, wie sich das verlorene Ich retten  lässt und warum ein Reich zum Abgrund kreist. Er ist sich nicht nur –  aus Berichten – sicher, dass goldene Zeitalter und die beste aller  Welten existiert haben müssen, sondern kann sogar angeben, wie sich das  Goldene und Beste konservieren lassen. In der Einleitung und dem ersten  Kapitel seines neuen Buches stellt er gleich mehrere Listen auf, die das  Rezept enthalten sollen. Leider lässt Sarrazin dabei aber die von ihm  selbst angekündigte Klarheit vermissen. Erst gelten als das Bewahrende  solche Elemente wie Religion, Gebräuche, Familie und Respekt vor den  Alten – als hätte Platon nicht über die Missachtung des Alters, Walther  von der Vogelweide nicht über die Missachtung der Sitten geklagt. Kurz  darauf gesteht Sarrazin zu, dass es für die Stabilität einer  Gesellschaft gerade um Organisationsformen über die Familie und die  Gebräuche hinaus gehe: Hierarchie und Gewaltausübung. Er nähert sich  dann mit erschütternder Kaltblütigkeit der Wahrheit über die goldenen  Zeiten, wenn er auf die „hierarchisch organisierte Diktatur des Pharaos“  zu sprechen kommt und das „brutal durchgesetzte“ Machtmonopol der Römer  beschreibt, ohne freilich konkreter über die permanente Krisen-,  Kriegs- und Verfolgungssituation im Römischen Reich aufzuklären. Was an  dem darauf folgenden Mittelalter, der Reformation, der Aufklärung oder  dem Absolutismus (in dieser Reihenfolge!) überhaupt noch golden war,  erschließt sich aus Sarrazins Darstellung schon gar nicht mehr. Dafür  schreibt Sarrazin gleich eine neue Liste mit Gründen fürs Goldene:  innere und äußere Sicherheit, Legitimationsgrundlage jenseits des  Individuums (zu denen für Sarrazin ohne Rücksicht auf den klassischen  Liberalismus und Rousseau auch die Volksherrschaft zählt), und – hier  kommt ein Neues hinzu – dass gerade dem Individuum Raum für  Erwerbstätigkeit gegeben wird. Aus den Höhen der Geschichte taucht  Sarrazin nun in die harte und doch seichte Realität der Marktwirtschaft  ein. Ganz Ökonom, hat Sarrazin auch keine Hemmung, für seine beste aller  Welten die neoliberale Denke der „human resources“ in Anspruch zu  nehmen. It's the economy, stupid. Der Gipfel der Wirrnis ist aber erst  erreicht, wenn Sarrazin nach einer trotz allem noch differenzierten  Darstellung der Bedeutung von Ökonomie, Staat, Religion, Familie,  Ideologie, Gewalt, Gesellschaft und Freiheit am Ende des ersten Kapitels  schreibt: „Alle Untersuchungen zeigen, dass Volkswirtschaften,  Gesellschaften und Staaten umso erfolgreicher sind, je fleißiger,  gebildeter, unternehmerischer und intelligenter eine Bevölkerung ist.“  Das ist im besten Fall eine Tautologie, aber tatsächlich ist es eine  radikale Verkürzung des Denkens. Strukturelle Probleme, wie sie Sarrazin  selbst mit der krisenhaften deutschen Nachkriegsökonomie und der  globalen Lohnkonvergenz zunächst noch erwähnt hatte, werden zur quantité  négligeable. Ich wage, ohne über das erste Kapitel des Buches  hinausgekommen zu sein, ein erstes Fazit: Intelligenz schützt vor  Dummheit nicht. Die Geschichte kennt kein „Geschlecht in ewig gleichem  Lichte, nun gar der Mensch, sein armer Geist“! (02.10.2010)
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 M  o r a l v e r s a g e n. Ein großes Paradox des Liberalismus lautet,  dass gerade er, der sich alles vom Einzelnen und seiner Leistung  erhofft, für das Gelingen des Gesamten auf ein System im weitesten  Sinne, das der Konkurrenz, sich verlässt. Seit Adam Smith gehört es zum  guten Ton der Liberalen, auf das Wohlwollen von Metzger, Brauer, Bäcker  gerne zu verzichten, solange sie nur ihr eigenes Interesse rational  verfolgen – den Rest erledigt die Konkurrenz. Wenn der Deutschlandchef  von Goldman Sachs die Verantwortung der Banken für das Gemeinwohl  ablehnt; ja selbst wenn ein angeklagter Banker derselben Bank offen in  seinen Emails zugibt, es komme ihm nur darauf an, der only potential survivor  zu sein, befinden sie sich noch immer in Übereinstimmung mit Smith. Wie  groß aber muss der Glaube an das System sein, wenn dieses jede  individuelle Gleichgültigkeit, ja Feindlichkeit gegenüber dem fremden  und allgemeinen Interesse auszugleichen imstande sein soll? Wie blind  muss man sich gegenüber den vielen Formen von Marktversagen, gegenüber  der Akkumulation von Reichtum im Kapitalismus, gegenüber der kriminellen  Energie der Unternehmen und gegenüber der Ausbeutungstendenz aller  Beschäftigungsverhältnisse machen, um an die Befriedigung des  Allgemeinwohls allein durch das Eigeninteresse zu glauben? Ohnehin  erweist sich der Glaube als Täuschung, wenn man nur den Bestand an  Wohlwollen und Interesse beachtet, der doch die Gesellschaft in Wahrheit  zusammenhält und der zugleich die unabdingbare Grundlage aller vom  Eigeninteresse geleiteten Geschäfte ist. Welcher Metzger, welche  Bäckerin könnte ein gutes, dauerhaftes Geschäft führen, ohne den  Kaufenden wohlgesonnen zu sein und ohne dieses Wohlwollen auch bei den  Kaufenden und bei seinen Geschäftspartnern voraussetzen zu können? Und  wenn es möglich wäre: wer könnte selbst glücklich mit seiner Arbeit  werden ohne zumindest auch das Bewusstsein haben zu dürfen, seinen  Mitmenschen damit etwas Gutes zu tun? Keinen Menschen lässt der Verzicht  auf Moral unbeschadet. (03.07.2010)
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J  a h n n g e d e n k e n. Wie seelenlos muss ein Volk sein, das einen  seiner größten Menschen und Dichter so wenig ehrt, ja man muss sagen  vergisst, wie Hans Henny Jahnn? Seine Werke sind von seltener, erhabener  Schönheit und Wahrheit, seine menschlichen und moralischen Qualitäten  über jeden Zweifel erhaben. Er war ein Universalgenie und hätte es  verdient, an unseren Schulen gleichauf mit Goethe, Hölderlin, Keller,  Rilke, Kafka, Mann und Brecht zu beweisen, was Dichtung und Menschsein  erreichen können. Aber welche Lernenden erfahren schon von der Existenz  Jahnns? Dabei würden gerade sie ihn brauchen, die noch am Beginn ihrer  Suche stehen! Ihn, der alles begriffen hatte, früh wie kein zweiter, und  dann tapfer wie ein Partisan der feindlichen Welt sein Leben und seine  Dichtung abrang. Doch nicht nur die Schulen: wer heute in eine gut  bestückte Buchhandlung geht, findet in der Abteilung, die angeblich die  Klassiker käuflich machen soll, kein einziges Werk von Jahnn. Es bleibt  also beim euphorischen Lob von Kollegen und Kennerinnen oder einem  Sonderband. Dabei wiegt eine Seite von Jahnns Werk alles auf, was heute  in deutscher Sprache in einem ganzen Jahr gedruckt wird. Es wäre ein  Segen für unser Land, statt der vielen überflüssigen Neuerscheinungen  die Druckmaschinen zu gebrauchen, um allen Deutschen Jahnns „Perrudja“  oder seinen „Fluß ohne Ufer“ zugänglich zu machen. Das würde die  geistige und moralische Erneuerung dieses Landes bewirken, die zurecht  so oft beschworen wird. Doch „sie können nicht länger wünschen, daß  etwas von Dauer wäre. Sie klammern sich nicht an das Dauernde, das in  Wahrheit ihre einzige Hoffnung sein könnte. Sie schaffen millionen  Gebilde, aber nicht einen Tempel, in dem das Dauernde verehrt wird als  Symbol des erreichbaren Reichtums.“ (22.06.2010)
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M  a r k t m a n i p u l a t i o n. Die Unzulänglichkeit der  mathematischen Wirtschaftswissenschaft, unsere Wirtschaft zu  beschreiben, beginnt schon im innersten, heiligsten Kern der  Mikroökonomie. Am Markt, so die  Theorie, träfen sich das gegebene Angebot und die gegebene Nachfrage,  deren Interaktion den Markt konstituiere. Der Markt sei kraft der  Interaktion das beste Mittel, um den Gleichgewichtspreis als das höchste Ziel des  Marktes zu finden. Der Nachfrage liege dabei zugrunde eine  Nachfragekurve, die wiederum aus einer Bedürfnisfunktion der  Konsumierenden resultiere. Doch schon diese Funktion existiert nur in  ökonomischen Lehrbüchern. In der Wirklichkeit dagegen stellt sich der  einzelne Mensch als ein Bündel vager, veränderlicher, widerstreitender  Interessen und Bedürfnisse dar, das jeder mathematischen Beschreibung  spottet. Aber die Wirtschaftswissenschaft überschreitet nicht nur bei  der Beschreibung der Bedürfnisse und der resultierenden Nachfrage die  Grenzen der zulässigen Abstraktion. Sondern ihr wirkliches Versagen ist,  dass sie nicht in ihr Kalkül einbezieht, wie die Angebotsseite in  Gestalt der am Markt tätigen Unternehmen, statt nur das Angebot zu  stellen, aus dem Bedürfnisbündel der Menschen heraus überhaupt erst  ökonomisch verwertbare Bedürfnisse  formt und füttert. Die  Abermilliarden, die heute für Werbung ausgegeben werden, sind dabei nur  der spezielle Ausdruck eines allgemeinen Eingriffs in die  Bedürfnisbildung, der mit jedem Angebot einhergeht. Damit werden  zwar keine künstlichen Bedürfnisse geschaffen, wie gerne gemunkelt wird,  denn verzichtbar ist alles, wenn man nur zum Verzicht bereit wäre. Aber  das Angebot verändert ständig die Nachfrage und verschiebt –  mathematisch gesprochen – mit der Nachfragefunktion auch den  Gleichgewichtspreis. Wie Schumpeter schrieb: "Die neue Ware muss  eingeführt werden, d.h. ihre Nachfragekurve muss aufgebaut werden."  Einen Gleichgewichtspreis gibt es nicht, denn der Markt ist kein  neutraler Vermittler: damit bricht die mikroökonomische Fundierung des  Marktes in sich zusammen.  (14.06.2010)
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M  e n s c h e n p f l i c h t e n. Mich als einzelnen Menschen haben die  Menschenrechte als Anfang und Ziel: meine Würde, mein Leben, meine  Freiheit, mein Glauben. Mein Urteil allein scheint deshalb auch in der  Frage zu zählen, wie ich meine Rechte zu nutzen gedenke. Jedoch gelten  die Menschenrechte für mich genau deshalb nur, weil ich Mensch bin, kein  anderes Tier. Mein Menschsein verleiht mir meine Menschenrechte.  Unveräußerlich haften sie mir an, mag ihnen auch in der Widerlichkeit  der Welt Unrecht widerfahren. Als Mensch muss ich mich für die Rechte  meiner Mitmenschen verantwortlich fühlen, denn sie sind mir gleich und  dürfen mir also nicht gleichgültig sein. Ich darf es nicht dulden, dass  die Widerlichkeit siegt. Will ich dem gerecht werden, muss ich mir und  meinen Mitmenschen gegenüber anspruchsvoll sein: keiner von uns darf  seine, unsere Menschenrechte mit Füßen und Worten treten. Selbst wenn  ich nur mich selbst als Mensch entrechte, entrechte ich alle Menschen.  Ich darf deshalb nicht an die Einwilligung der Entrechteten glauben.  Menschsein verpflichtet mich auf die Wahrnehmung und Wahrung der  Menschenrechte. Ihr Gebrauch durch mich hat immer auch den  Menschenrechten aller Menschen zu dienen. (30.05.2010)
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S  p r e c h ü b u n g e n. Dass die Kommunikation durch den Fortschritt  ihrer Mittel entzaubert oder gar zerstört werde, gehört zu den Klagen  der Fantasielosen. Gewiss ist die Vorstellung unbequem, noch der  abgelegenste Mensch könne durch ein Mobiltelefon erreicht, noch das  abgelegenste Gespräch plötzlich davon unterbrochen werden. Kennt man  heute einen Namen, lässt sich mit einer Suchmaschinensuche vielleicht  mehr über den Menschen erfahren als in einem abendlangen Gespräch. Wer  sich nicht stört an der Formlosigkeit und Nachlässigkeit des  Emailverkehrs, hat keine Ahnung von den Segnungen der Form. Die  vordergründige Erleichterung der Kommunikation bringt uns dem Gegenüber  oft kein Stück näher – ferner rückt sie dieses aber auch nicht: die  Herausforderung bleibt stets die Gleiche. Zudem blüht aus der  Veränderung noch für jeden zerstörten Zauber ein neuer auf, schon weil  die Erleichterung sich in der Praxis als rechte Täuschung erweist. Bei  einer Email ist die Formfrage mindestens so heikel und beglückend wie in  Briefen, allein die Betreffzeile kann mehr bewirken als ein  zehnseitiger handgeschriebener Brief. Die Namensforschung im Internet  mag ein verschwommenes Foto zutage fördern, welches die Spannung auf das  genaue Gesicht nur steigert. Das Mobiltelefon schafft nur neue  Varianten scheiternder und glückender Erreichbarkeit, immerhin kann eine  short message unvergesslich Schönes übermitteln. Wer die neuen  Wege der Kommunikation gar nicht zu schätzen weiß, wird auch an den  älteren kaum tiefen Gefallen finden. Keiner der Wege verwischt völlig  die Spuren dessen, woher jeder echte Austausch kommt und hinmünden  sollte: ungestörtes, persönliches Zwiegespräch.  (22.05.2010)
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H  a n d e l s g r e n z e. Mit der Vollendung des Weltmarktes wird seine  theoretische Begründung, die Freihandelslehre, auf dem Müllhaufen der  Ideengeschichte landen. Das Versprechen dieser Lehre, dass durch  Niederreißen der Grenzen immer der Wohlstand zunehme, stößt mit dem  Planeten an seine eigene absolute Grenze. Dann ist es vollbracht. Nach  der Vollendung des Werks müsste die Weltwirtschaft entweder schweren  Schaden erleiden, wenn sie zuvor nur durch die Liberalisierung zu  Entfaltung gekommen wäre. Oder sie würde prächtig weiterwachsen, ohne  auf die ohnehin unmögliche weitere Entgrenzung angewiesen zu sein, was  gleichbedeutend wäre mit dem geringen Wert des so mühsam errungenen  Weltmarktes. Letzteres scheint die wahrscheinlichere Option. Denn so  ökonomisch sinnvoll es ist, dass nicht jeder nur für sich selbst  wirtschaftet, sondern mit seinem Nebenmenschen tauscht – so unklar ist,  warum nicht bei den meisten Gütern ein Austausch weit unterhalb der  Weltgrenze auch schon genügen sollte, um ein gutes Leben für alle  gewährleisten zu können. Doch erst mit dem Weltmarkt wird der Beweis  erbracht sein, dass das gute Leben weit mehr zu tun hat mit der Art, wie  der gemeinsame Handelsraum organisiert ist, als mit der Größe des  Handelsraumes selbst. (20.04.2010)
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M  e n e t e k e l. Das Bewusstsein für den Ungeist der Sprache ist  verloren gegangen – was dem Ungeist selbst Raum bietet. Hans-Werner Sinn  schreibt, Preise und Löhne seien Knappheitssignale, „die die Zuordnung  von Menschen und Kapital zu den alternativ verfügbaren  Verwendungsmöglichkeiten ... steuern und optimieren“. Wie immer geht der  schlampige Umgang mit der Sprache mit dem Ungeist einher. Schon das  technische und redundante „alternativ verfügbar“ deutet auf Sinn als den  Unmenschen hin, der schließlich Menschen ganz wie Vermögenswerte oder  Gegenstände Verwendungsmöglichkeiten zugeordnet sehen will. Dass solche  Formulierungen offensichtlich heute akzeptabel sind, bedeutet auch, dass  Sinn, auf die Formulierung angesprochen, daran festhalten würde. Er  beschreibe nur exakt, was sei, würde er zunächst wohl antworten, um dann  – ohne Einsicht – zuzugestehen, dass das „nur so ein Ausdruck“ sei und  er selbstverständlich Menschen nicht Gegenständen gleichsetzen wolle.  Recht hätte er mit seinem Ausdruck natürlich insofern, als er den  bestehenden Verhältnissen angemessen ist. Dass Sinn damit aber auch  diese Verhältnisse formt und erhält, dass Menschen auch durch diesen  Ausdruck und das dahinter stehende Bewusstsein zu den Gegenständen  werden, als die Sinn sie nur zu beschreiben meint, kann er mit seinem  verengten ökonomischen Horizont nicht fassen. Und dass auch seine Arbeit  gewogen und für zu leicht befunden werden könnte, wenn es den Staat als  seinen Arbeitgeber und Großförderer nicht gäbe, irritiert ihn nicht im  Geringsten in seinem Glauben an die Entscheidungshoheit des Marktes über  den Wert der Menschen und ihrer Arbeitskraft. Solange dieser Glaube und  die entsprechende Sprache fortbestehen, wird der Wert unserer  Wirtschaft und Gesellschaft der Mehrheit der Menschen verschlossen  bleiben. (30.03.2010)
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M  a r k t w e r t. Der Glaube der Neoliberalen an die Unfehlbarkeit der  Märkte ist angeschlagen, aber nicht vergangen. Dies gilt auch für das  Herz des Marktes, die Preisbildung. Kürzlich sagte der Chicagoer Ökonom  John Chochrane ungerührt: „Ich weißt nicht, was eine Blase ist. Niemand  kann sagen, ob die Kurse zu hoch sind.“ Preise werden hier reduziert auf  ihr subjektives Element: die Einschätzung des Individuums. Die  Gesamtheit der Individuen als Markt bestimmt dann den Preis einer Ware,  einen exogenen Wert abseits der subjektiven Einschätzungen gibt es  nicht. Der Preis ist damit immer mit dem – aktuellen – Wert identisch.  Ändern die Individuen ihre Einschätzungen, ändern sich Preis und Wert  der Ware. Und der Markt kann so gar nicht falsch liegen. Diese Sicht ist  hermetisch, auf den ersten Blick kann sie sogar theoretisch  unangreifbar wirken. Abgesehen von ihren in der Ökonomie diskutierten  Schwächen wie bei Informationsasymmetrien wird jedoch bei näherem  Betrachten auch deutlich, dass dabei der Subjektivismus nicht konsequent  zu Ende gedacht wird. Denn das Individuum würde von sich nicht  behaupten, mit seiner Einschätzung immer richtig zu liegen, so wie es  die Neoliberalen vom Markt als Ganzem annehmen. Das Individuum wird  vielmehr davon überzeugt sein, irren und falsche Entscheidungen treffen  zu können und getroffen zu haben. Aus seiner Sicht sind Preis und Wert  einer Ware nicht identisch, zumindest im Nachhinein. Und das Individuum  wird immer wieder sagen müssen, es habe sich über den Wert einer Ware  aus Unkenntnis oder aus Enttäuschung über den tatsächlichen Nutzen  geirrt und deshalb einen zu hohen Preis bezahlt. Dieses Irren, dieses  subjektive Auseinanderfallen von Wert und Preis ist es, was die  Neoliberalen nicht wahrhaben wollen. Denn wenn das Individuum irren kann  und muss, kann und muss es auch der Markt, wenn er doch nur aus den  Einschätzungen der Individuen besteht. Dann muss es auch möglich sein,  einen Preis objektiv als zu falsch einzuschätzen, bevor der Irrtum dem  Individuum offenbar wird. (21.02.2010)
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S  a n d b u r g e n. Im Kern der Finanzkrise stehen die zu riskanten  Kredite, die durch Kreditvergabe an Menschen ohne Sicherheiten  entstanden. Für diese Vergabe gibt es vier Schuldige: die Nehmer, die  gierig waren und ihre Finanzkraft überschätzten; die Geber, die gierig  waren und die Gier der Nehmer ausnutzten; die Politik, die eine laxe  Kreditvergabe begünstigte und die Finanzmärkte liberalisierte; und die  liberalisierten Finanzmärkte, die aus Krediten eine Handelsware machten  und eine risikolose Kreditvergabe vorgaukelten. Wer diese Entwicklung  jetzt als verfehlt geißelt, muss sich zu allen Schuldigen äußern. Er  darf nicht nur die Gier der Banken und die Gaukelei der Finanzmärkte  anprangern, sondern muss sich auch zu den Nehmern und der Politik  äußern. Denn natürlich hat der Weiterverkauf der Kredite die Krise  verstärkt und verkompliziert. Aber die Wiederholung einer solchen Krise  lässt sich nur verhindern, wenn es keine zu riskanten Kredite gibt.  Stabilität im Finanzsektor ist nur möglich bei besicherter, begrenzter  Kreditvergabe. Bestimmte Menschen müssen augeschlossen bleiben von  bestimmten Krediten, sonst bringen die Ausfälle Banken zu Fall. Doch  kaum einer geht mit dieser Erkenntnis konsequent um. Die  kapitalistischen Regierungen bringen die Banken dazu, weniger Kredite zu  vergeben, indem die Eigenkapital-Anforderungen erhöht werden; zugleich  erregt man sich darüber, dass die Banken nicht genug Kredite vergeben  und denkt schon wieder über erzwungene Kreditvergabe nach. Aber auch  linke Regierungskritiker sind oft nicht besser: sie prangern die  Risikokredite als eine Krisenursache an, sprechen aber die Kreditnehmer  selbst von aller Schuld frei und geben sie allein der Finanzwirtschaft.   Diese Exkulpation der riskanten privaten Kreditnehmer lässt die Linken  dann bereitwillig einer riskanten öffentlichen Kreditaufnahme zustimmen.  (31.10.2009)
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S  c h u l d f r a g e. Dass der Kapitalismus uns in die ökologische Krise  führt, steht außer Frage. Doch er tut dies, weil er als ökonomisches  System so erfolgreich ist bei der Ausbeutung von Ressourcen und der  industriellen Produktion von Gütern. China führt dies gerade wieder vor,  mag dort der Erfolg auch nicht ungetrübt sein und mag er auch auf  mancher Vorleistung des Kommunismus beruhen, wie Amartya Sen  festgestellt hat. Im Angesicht dieses Erfolges bleibt der Linken im  deutschen Wahlkampf nichts anderes übrig als die Grünen im ökologischen  Eifer zu überbieten: mit radikalen Forderungen zu Atomausstieg und  Klimaschutz, mit Tempolimit und Ökolandbau will die Linke den  Kapitalismus überwinden und verabschiedet sich so vom sozialistischen  Traum, den Kapitalismus industriell in den Schatten zu stellen. Aber im  Gegensatz zu den Grünen kann die Linke nicht glaubhaft machen, wie sie  zu ihrem Eifer kommt. Immer noch will sie zuvorderst "eine Gesellschaft,  in der die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen", sprich: sie  will den alten Anthropozentrismus fortsetzen. Nur die Grünen denken die  Kritik an der industriellen und anthropozentrischen Prägung von  Kapitalismus und Sozialismus zuende, wenn sie den alten  Gesellschaftsvertrag als "zulasten der Umwelt" bezeichnen. Und sie  stellen auch offen die Frage, gegen welches ökonomische Modell sich die  Ökologie besser behaupten kann – der Kapitalismus ließ sich dabei in der  Vergangenheit nicht weniger schlecht besiegen als der Sozialismus. Zwar  plagt die Grünen umgekehrt ihr soziales Gewissen, aber sie lassen sich  deswegen nicht dazu hinreißen, die Linke in sozialen Fragen zu  überbieten. Wenn der materielle Fortschritt die Ressourcenausbeutung  erfordert und wenn die Ressourcen endlich sind, dann ist auch der  materielle Fortschritt endlich. (29.09.2009)
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G  e f ü h l l o s. Die Wirtschaftswissenschaft ist eine beschränkte  Wissenschaft - dass dies immer wieder vergessen wird, trägt zu den  verschiedenen Krisen unserer ökonomisierten Lebenswelt bei. Der  wichtigste Grund für die Beschränkung ist: die Wirtschaftswissenschaft  setzt den Menschen voraus, wie er ist. Mit seinen Wünschen. Mit seinen  Schwächen. Mit seinen Gefühlen. Mit seiner Vernunft. Aber vor allem: mit  seiner Freiheit. Nicht nur die unselige Mathematisierung in der  Wirtschaftswissenschaft unserer Zeit muss dabei scheitern, den Mensch zu  erfassen. Wer sich aber nur mit Wirtschaftswissenschaft beschäftigen  will, um ihren Wert zu bestreiten, wird wenig dabei gewinnen. Zudem  setzt jede intellektuelle Bestreitung soviel ökonomisches Denken voraus,  dass die völlige Bestreitung unmöglich wird. Dies heißt nicht, dass  eine völlige Bestreitung unmöglich ist - aber dies setzt ein Maß an  intellektuellem Verzicht voraus, das zu leisten die allerwenigsten  bereit sind. (29.09.2009)
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S  t i l l g e s t a n d e n. Mit der drohenden Klimakatastrophe wird  trotz aller Versprechen, die  hinter den Erneuerbaren Energien stehen,  die Frage aufgeworfen: ob es überhaupt möglich ist, eine Produktion,  Fortschritt, ja Tätigkeit zu erreichen, ohne zuviele Ressourcen zu  verbrauchen? Wenn gerade die Engagiertesten unter den Klimaaktivistinnen  sich über ihre eigenen Vorgaben hinwegsetzen müssen, um zu  internationalen Treffen zu fahren, lässt sich das nicht einfach mit dem  Hinweis auf die umweltpolitische Effektivität dieser Umweltverschmutzung  entschuldigen. Der von konservativer Seite vorgebrachte Vorwurf, fast  niemand würde die lebenspraktischen Konsequenzen der Klimaschützerinnen  tragen wollen, kann nicht ernst genug genommen werden. Und wer es dann  ernst meint mit seinem Engagement, der wird sein Leben auf den Prüfstand  stellen und sagen müssen, auf was er alles verzichten kann: Auto,  Fliegen, Reisen, Elektrogeräte, Internet, Bücher, ja grundsätzlich  alles, was wir konsumieren? Dass jemand, der lesend den Tag im Park  verbringt, dem Klima freundlicher ist als jemand, der einen Tag lang am  Computer und im Netz tätig ist, greift die Möglichkeit eines  umweltpolitischen Aktivismus im Kern an. Denn je erfolgreicher eine  Kampagne wird, desto mehr steigt auch der Ressourcenverbrauch an.  (28.08.2009)
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D  i e b e s g u t. Dass die aktuelle Krise, hervorgegangen aus einem  Überfluss an Geld und Kredit, nun wieder mit mehr Geld und Kredit  bekämpft wird, lässt an der kapitalistischen Vernunft verzweifeln. Diese  Maßnahmen laufen selbst der wohlwollendsten Interpretation der Krise  zuwider. Denn gegeben den Fall, dass die neuen Mittel der  Geldbeschaffung wie Derivate, Verbriefungen oder Zweckgesellschaften  tatsächlich vorher eine geraume Weile zu einer Förderung der realen  Wirtschaft beigetragen haben, hätte es sich doch um einen der Zukunft  gestohlenen Erfolg gehandelt. Es ist durchaus zugunsten des Kapitalismus  anzunehmen, dass ein solcher Diebstahl vorliegt, reicht doch soweit die  kapitalistische Vernunft noch allemal, dass sie den momentanen eigenen  Vorteil nicht verkennen lässt. Also wohlwollend gedacht, wäre das  einzige Mittel zur Bekämpfung der Krise der Verzicht: nicht als  moralisches Gebot, das er auch sein müsste, sondern als rein  ökonomisches, gegen das zu handeln sich nicht rechnen wird. Nur so ließe  sich das der Zukunft Gestohlene wiedergutmachen, damit wenigstens in  der Zukunft wieder das Normalmaß erreicht werden könnte. Mit noch mehr  Geld und Kredit aber werden die übernächsten Generationen herangezogen,  um den Diebstahl an der nächsten Generation zu bezahlen. Läge allerdings  kein Zukunfts-Diebstahl vor: hätten sich nur Einzelne auf Kosten der  Mehrheit - und auch auf Kosten eines Teils der kapitalistischen Elite -  bereichert, wäre der Diebstahl nur umso größer und unentschuldbarer.  (05.08.2009)
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